Tod im Schilcherland

 

Alle Vorhaben, die der Beingrübl an diesem Tag umgesetzt hat, sind weitsichtig und richtig gewesen. So eine Menge folgenschwerer Aktivitäten hat er in den ganzen letzten zwanzig Jahren nicht unternommen. Damit hätte er es gut sein lassen und sich vor seinem Haus mit einem letzten Bier entspannt in die Abendsonne setzen können. Aber er ist so aufgedreht und tatendurstig, dass er sich entschließt, noch eins draufzusetzen.

Er will heut noch mit dem Großkopferten über die Sonnleitenwiese reden. Vorher findet er eh keine Ruh. Er freut sich schon auf das Gesicht, das der machen wird, wenn er erfährt, dass die halbe Sonnleitenwiese jetzt dem Enkel vom Beingrübl gehört und nicht zum Verkauf steht. Und dass die einzige Möglichkeit, wie sie ihr Energieprojekt umsetzen können, darin besteht, Herbert als Mitgesellschafter zu akzeptieren. Damit rechnet der falsche Hund bestimmt nicht. Der glaubt, mit seinen schönen Worten kann er jeden für blöd verkaufen. Aber diesmal hat er sich geschnitten. Und wenn’s ihm net passt, soll er’s bleiben lassen. Allein kann der sowieso nix entscheiden.

Er fährt den Herzogberg hinauf in Richtung Modriach. Er weiß schon, wo der Großkopferte sich herumtreibt. Es beginnt eh schon zu dämmern, lang wird der kein Büchsenlicht mehr haben. Nach einer Kurve sieht er schon den Forstweg rechts von der Straße abgehen und folgt ihm ein paar Meter bis zu einer Weggabelung. Dann fährt er nach links und stellt seinen alten Lieferwagen am Wegrand ab. Er sperrt das Auto gewissenhaft zu. Es besteht zwar keine großartige Gefahr, dass jemand Lust verspürt, den alten Karren zu stehlen, aber man weiß ja nie. Er geht zur Gabelung zurück und biegt in den rechten Forstweg ein, der mit einem versperrten Schlagbaum vor ungebetenen Autofahrern geschützt ist.

Je weiter er in den Wald kommt, desto finsterer wird es. Aber das bisschen Dämmerlicht reicht aus, sicher auf dem Weg zu bleiben. Unangenehmer ist schon, dass es fast nur bergauf geht. Seine letzte Wanderung liegt Jahre zurück, aber die paar Hundert Meter wird er ja wohl noch schaffen. Außerdem ist es besser, mit dem feinen Herrn allein zu sein. Was sie heut zu besprechen haben, braucht niemand zu hören.

Aber die Erwartung Beingrübls, mit seinem Gesprächspartner allein zu sein, wird enttäuscht. Als er aus dem Wald auf die kleine Lichtung tritt, bemerkt er zwei dunkle Geländewagen am Ende des Weges. Aus dem Seitenfenster der Jagdhütte dringt Licht.

Das passt ihm jetzt gar nicht. Soll er wieder umdrehen und gehen? Auf eine bessere Gelegenheit warten? Ah nix, denkt er. Wo er sich schon die ganze Mühe gemacht hat mit dem Herfahren und dem Aufstieg. Er wird mit dem Mann einfach draußen reden, basta. Und so trifft Beingrübl zum zweiten Mal an diesem Tag die falsche Entscheidung.

Zuerst muss er aber eine Stange Wasser in die Ecke stellen. So viel Bier hat er gar nicht getrunken, aber in letzter Zeit muss er auch mitten in der Nacht raus zum Pieseln. Alt werden ist scheiße. Aber was willst du machen? Erleichtert schüttelt er ab und zieht den Reißverschluss hoch. Seine Blase wird ihn jetzt nicht mehr ablenken.

Er geht an den Autos vorbei und umrundet ein mannshohes Grünerlengebüsch, das ihm die Sicht auf den Vorplatz der Hütte nimmt. In diesem Augenblick hört er merkwürdige Laute, mit denen er nichts anfangen kann. Ein hohes Wimmern, fast ein Jaulen – ist das ein Schrei gewesen? Es scheint aus der Hütte zu kommen. Vorsichtig zieht er sich wieder hinter das Gebüsch zurück. Die klagenden Laute setzen wieder ein.

Neugierig streckt er den Kopf vor, als die Tür aufgerissen wird und ein heller viereckiger Lichtschein auf den Vorplatz fällt. Eine Gestalt stürzt über die Stufen und landet mit einem gequälten Aufschrei auf der Erde. Beingrübls Kopf zuckt zurück. Er hört Gejohle und Gegröle und lugt wieder vorsichtig um die Ecke. Drei Männer mit Gewehren in der Hand haben die Gestalt am Boden eingekreist.

Ja, leck mich doch am Arsch!, denkt Beingrübl. Was treiben die da? Zwei der Männer sind ihm wohlbekannt, den dritten hat er noch nie gesehen. Die am Boden liegende Gestalt kann er nicht erkennen, die Männer verdecken ihm die Sicht. Er will schon ausspucken, kann sich aber gerade noch zurückhalten.

Die nächsten Sekunden entscheiden sein Schicksal. Er sieht, wie einer der Männer sein Gewehr anhebt und der Person auf dem Boden den Holzschaft in den Bauch rammt. In dem Augenblick entfährt ihm ein Schreckenslaut, und obwohl er sich sofort auf den Mund schlägt, ist es zu spät. Die Männer drehen sich sofort in seine Richtung, aber ihre Erstarrung löst sich schneller als die vom Beingrübl.

 »Treibjagd!«, ruft der Jüngere und rennt hinter die Hütte. Der Große läuft ein Stück zur Seite, ohne den Eindringling aus den Augen zu lassen. Dann repetiert er durch. Der Dritte kommt direkt auf Beingrübl zu, das Gewehr in Hüfthöhe.

Höchste Zeit, abzuhauen. Zurück in den Wald, dorthin, wo er hergekommen ist. Aber der Weg ist ihm versperrt. Der Jüngere kommt hinter der Hütte hervorgerannt und blockiert diese Fluchtmöglichkeit. Die beiden anderen kommen von vorn und von der Seite. Beingrübl bleibt nur eine Richtung, in die er laufen kann. Sein Herz trommelt, während er versucht, so rasch wie möglich durch das peitschende Gesträuch zu den Bäumen auf der anderen Seite zu gelangen. Die einsetzende Dunkelheit ist sein einziger Schutz, er muss es schaffen.

Die Bäume sind schon zum Greifen nah, als ihm ein brennender Schmerz vom Rücken ins Bein fährt. Sein Ischiasnerv drückt ihn zu Boden, der Schmerz tobt ihm mit Messerstichen den Rücken hinauf. Doch sein Überlebenswille ist stärker. Er zieht sich an einer Staude hoch, taumelt weiter. Als er hinkend in den Wald eintaucht, merkt er, dass sich seine Verfolger nicht beeilen. Sie haben ihn von drei Seiten in die Zange genommen und treiben ihn vor sich her.

Der Waldboden wird abschüssiger. Sein Fuß verfängt sich an einer Wurzel, er schreit auf, als der Schmerz wieder explodiert. Er muss weiter, weiter … Links von sich erkennt er einen Felsen, sonst kann er nichts sehen, die Nacht hat die Dämmerung endgültig abgelöst.

Blind stolpert Beingrübl vorwärts. Er weiß längst, dass er etwas gesehen hat, das er nie hätte sehen dürfen. Sie können ihn nicht davonkommen lassen. Sie haben die Todesstrafe verhängt, aber das reicht ihnen nicht. Er soll ihre Beute sein. Das gibt den Wahnsinnigen noch einen zusätzlichen Kick.

Die Rufe, das Lachen und Johlen kommen näher. Sein Entsetzen treibt Beingrübl vorwärts, auf einen felsigen Abgrund zu. Im letzten Moment erkennt er die Gefahr und schafft es abzubremsen, indem er sich an einem Ast festkrallt. Sein Atem geht pfeifend, er ist am Ende. Langsam dreht er sich um und sieht seine Verfolger keine fünf Meter entfernt stehen. Sie warten ab, verhöhnen ihn, aber er kann den Sinn ihrer Worte nicht mehr erfassen. Ein Rauschen geht durch seinen Körper, er spürt einen Schlag und entsetzliche Schmerzen in der Brust. Dann verliert er das Bewusstsein.

Einer der Männer legt auf ihn an, doch er wird von den beiden anderen am Schuss gehindert.

»Der ist fertig. Gibt nur Spuren.«

Ihre Beute liegt zusammengekrümmt vor ihnen. Ein Fußtritt, und sie fällt geräuschlos in den Abgrund.

Wenn je einer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist, dann der alte Beingrübl.